ACT: Willkommen am Punkt der Entscheidung
- ergo-mara
- 28. Juni
- 9 Min. Lesezeit
Eine der Schönheiten des Punktes der Entscheidung ist, dass er eine klare Übersicht über das ACT-Modell liefert. (Anmerkung: Der Punkt der Entscheidung hat Ähnlichkeiten mit einem beliebten ACT-Instrument, das Matrix heißt, unterscheidet sich andererseits aber auch sehr von ihm.
Der Punkt der Entscheidung ist ein Hilfsmittel, das schnell Übersicht über unsere Probleme verschafft, Quellen des Leidens identifiziert und formuliert, wie wir sie mit ACT behandeln können. Wir können ihn an jedem Punkt der Therapie einbringen und ihn in vielen verschiedenen Zusammenhängen verwenden. Ich führe ihn häufig etwa in der Mitte meiner ersten Sitzung mit einer neuen Klientin als Teil des informierten Konsenses ein. Typischerweise geht das etwa so:
Therapeut: Wäre es für Sie okay, wenn ich kurz etwas zeichne? Es ist eine Art Plan, der uns hilft, effektiv miteinander zu arbeiten. (Der Therapeut holt einen Stift und ein Blatt Papier.) Sie und ich und alle Menschen auf diesem Planeten machen immer irgendetwas. Wir essen, trinken, gehen, sprechen, schlafen, spielen – immerzu machen wir etwas. Auch wenn wir einfach die Wand anstarren, ist das auch etwas, was wir tun, oder? Und manche dieser Dinge, die wir tun, sind ziemlich nützlich; sie helfen uns, weiter zu einem besseren Leben fortzuschreiten. Ich nenne sie also »Hinbewegungen«. Hinbewegungen sind im Grunde die Dinge, die Sie anfangen möchten zu tun, oder von denen Sie mehr machen möchten, wenn unsere Arbeit, die wir hier tun, Erfolg hat.
Während er dies sagt, zeichnet der Therapeut einen Pfeil und schreibt:

Der Therapeut fährt fort: Wenn wir also Hinbewegungen machen, bedeutet das, dass wir effektiv handeln und uns wie der Mensch verhalten, der wir sein möchten. Wir tun Dinge, die das Leben wahrscheinlich sinnvoller und erfüllender machen. Das Problem ist, dass das nicht alles ist, was wir machen. Es gibt andere Dinge, die wir machen, die die entgegensetzte Wirkung haben: Sie bringen uns von dem Leben, das wir in Wirklichkeit aufbauen wollen, weg. Dies nenne ich daher ›Wegbewegungen‹. Wenn man Wegbewegungen macht, bedeutet das, dass man ineffektiv handelt und sich nicht wie die Art Person verhält, die man sein möchte, und Dinge tut, die das Leben auf lange Sicht eher schlechter machen. Im Grunde sind Wegbewegungen also alles das, womit Sie aufhören oder was Sie zumindest weniger machen werden, wenn unsere Arbeit hier erfolgreich ist.
Während er dies sagt, zeichnet der Therapeut einen zweiten Pfeil und schreibt:

Der Therapeut fährt jetzt fort: Und dies gilt für uns alle, oder? Den ganzen Tag machen wir Hinbewegungen und Wegbewegungen und es verändert sich von Moment zu Moment. Und wenn das Leben nicht zu schwer ist, wenn die Dinge gut laufen und wenn wir bekommen, was wir im Leben wollen, ist es viel leichter, sich für diese Hinbewegungen zu entscheiden. Aber wie Sie wissen, ist das Leben selten so. Das Leben ist hart, und sehr oft bekommen wir nicht das, was wir wollen. Im Laufe des Tages begegnen wir also allen möglichen schwierigen Situationen und schwierige Gedanken und Gefühlen tauchen auf.
Unten an den Fuß des Diagramms schreibt der Therapeut jetzt »Situation(en), Gedanken und Gefühle«. (Anmerkung: Im Verlaufe wird der Ausdruck »Gedanken und Gefühle« als Kurzformel für Gedanken, Gefühle, Emotionen, Erinnerungen, dringende Bedürfnisse, Impulse, Bilder und Sinnesempfindungen verwendet. Alle diese privaten Erfahrungen können am Punkt der Entscheidung erwähnt oder aufgeschrieben werden.)

Der Therapeut fährt fort: Das Problem ist, dass die Grundeinstellung bei den
meisten von uns die Tendenz ist, bei diesen schwierigen Gedan-
ken und Gefühlen hängen zu bleiben, wenn sie sich zeigen. Sie
halten uns in gewisser Weise fest und ziehen uns zu ihnen hin
und zerren uns herum und ziehen uns überallhin. Wissen Sie, was ich meine? Sie können uns körperlich im Griff haben, dann fangen wir an, mit Armen und Beinen und mit unserem Mund auf verschiedene Weise auszuagieren. Oder sie haben unsere Aufmerksamkeit im Griff, dann verlieren wir uns in unserer inneren Welt, statt auf das zu fokussieren, was man tut. Und je fester sie uns im Griff haben … umso mehr machen wir diese Ausweichbewegungen, oder?
Der Therapeut schreibt jetzt »verstrickt« neben den Pfeil, über dem »Wegbewegungen« steht.

Der Therapeut fährt fort: Wir alle tun also diese Dinge in gewissem Maße,
das ist normal. Niemand ist vollkommen. Wenn diese Dinge aber oft passieren, führt das zu großen Problemen. Eigentlich gehen fast alle psychischen Probleme, die wir kennen – Angst, Depression, Sucht, was auch immer – auf diesen Grundprozess zurück: Man gerät in den Griff von schwierigen Gedanken und Gefühlen und fängt an, Wegbewegungen zu machen. Macht das Sinn? Es gibt jedoch Momente, in denen man sich von die -sen schwierigen Gedanken und Gefühlen losmachen und statt dessen Hinbewegungen machen kann. Und je besser wir darin werden, dies zu tun … nun ja, umso besser wird das Leben.
Während er dies sagt, schreibt der Therapeut »frei von Verstrickung« neben den Pfeil »Hinbewegung«. Der Therapeut zeichnet jetzt einen kleinen Kreis um den Punkt, an dem sich die
zwei Pfeile berühren. (Wenn man das möchte, kann man die Worte »Punkt der Entscheidung« oder die Anfangsbuchstaben »PdE« hineinschreiben.)

Während er das tut, fährt er fort: Wenn wir also in diesen schwierigen Situationen sind, und diese schwierigen Gedanken und Gefühle auftauchen, müssen wir uns entscheiden: Wie reagieren wir darauf? Je mehr wir uns im Griff befinden, umso wahrscheinlicher werden wir Wegbewegungen machen. Je mehr wir uns aber aus dem Griff befreien können, umso leichter sind Hinbewegungen.
Der Therapeut fährt fort: Wenn wir also gut hierin werden möchten (zeigt auf den Pfeil »Hinbewegung«), müssen wir zwei Dinge tun: Wir müssen ein paar Kompetenzen lernen, wie wir uns aus dem Griff befreien können. Und wir müssen uns darüber klar werden, welche Hinbewegungen wir machen möchten. Wenn wir das einmal erreicht haben, haben wir viel mehr Entscheidungsspielraum, wie wir auf all diese schwierigen Dinge reagieren, die uns das Leben beschert. Und das ist im Grunde das, worum es bei dieser Art Therapie geht: Es geht darum zu lernen, wie wir uns aus dem Griff dieser Dinge befreien können (zeigt auf »Gedanken und Gefühle«), wie wir dies reduzieren (zeigt auf Wegbewegung) und uns helfen, besser darin zu werden, dies zu tun (zeigt auf Hinbewegung).
Schwierige Terminologie
Manche Anwenderinnen der ACT verwenden den Ausdruck »im Griff« und meinen damit allein kognitive Fusion. Im Zusammenhang mit dem Punkt der Entscheidung wird der Begriff in einem weiteren Sinn verwendet und bedeutet sowohl kognitive Fusion als auch Erlebnisvermeidung.
Das »nackte Grundgerüst« des Punktes der Entscheidung
Was Sie gerade über den Punkt der Entscheidung gelesen haben, ist eine Darstellung des Grundgerüstes: eine allgemeine Übersicht, ohne spezifische Details. Idealerweise sollten Sie dieses Skelett mit Fleisch versehen: Sie sollten es für den Klienten mit spezifischen Beispielen für seine schwierigen Gedanken und Gefühle, für die schwierigen Situationen, mit denen er konfrontiert ist, für seine Wegbewegungen und für seine Hinbewegungen persönlich machen. Wenn Sie in diesem Buch weiter fortschreiten, zeige ich Ihnen, wie Sie dieses Diagramm ausfüllen können.
Fürs Erste möchte ich drei wichtige Punkte hervorheben:
1. Der Punkt der Entscheidung umfasst offenes und verdecktes Verhalten.
Bei der ACT definieren wir Verhalten als »alles, was ein ganzes Wesen tut«. Ja, Sie lesen richtig: alles, was das ganze Wesen tut, ist Verhalten.
Das schließt offenes Verhalten wie Essen, Trinken, Gehen, Sprechen, die Serie Game of Thrones Anschauen usw. ein. Offenes Verhalten bedeutet im Grunde physisches Verhalten: Handlungen, die Sie mit Ihren Armen, Beinen, Händen und Füßen vornehmen; Gesichtsausdruck; alles, was man sagt, singt, ruft oder flüstert; wie man sich bewegt, isst, trinkt, atmet: die Körperhaltungen usw.
Der Begriff »Verhalten« bezieht sich aber auch auf verdecktes Verhalten, was sich im Grunde auf psychisches Verhalten wie Denken, Fokussieren, Visualisieren, Achtsamkeit, Vorstellen und Erinnern bezieht. (Dieses innere psychische Verhalten kann von anderen niemals direkt beobachtet werden, daher wird es häufig eher »privates Verhalten« als »verdecktes Verhalten« genannt.)
Hier eine einfache Weise, wie man offenes von verdecktem Verhalten unterscheiden kann. Angenommen, es ist plötzlich eine Videokamera da, während es zu dem Verhalten kommt. Könnte die Kamera das Verhalten aufnehmen? Wenn ja, dann ist es offenes Verhalten. Wenn nicht, dann ist es »verdecktes Verhalten«.

Wie Sie in späteren Kapiteln sehen werden, nehmen wir offenes und verdecktes Verhalten auf, wenn wir den Punkt der Entscheidung mit einer Klientin verwenden. Zu verdeckten Wegbewegungen können zum Beispiel Grübeln, sorgenvolles Denken, Distanzieren (disengaging), den Fokus verlieren und obsessives Denken gehören. Verdeckte Hinbewegungen können Auflösen von Fusion oder Verstrickung, also Defusion, Akzeptieren, Aufmerksamkeit neu ausrichten, Sich engagieren, Entwickeln von Strategien und Planen sein.
2. Der Klient definiert, was eine Wegbewegung ist.

Der Punkt der Entscheidung beschreibt die Dinge immer aus der Perspektive der Klientin.
Mit anderen Worten, es ist der Klient, der definiert, welches Verhalten »von etwas weg« gerichtet ist, nicht die Therapeutin. Zu einem frühen Zeitpunkt der Therapie kann es sein, dass ein Klient selbstschädigendes oder selbstzerstörerisches Verhalten als eine Hinbewegung sieht.
Zum Beispiel kann eine Klientin mit einer Alkoholabhängigkeit oder Spielsucht Trinken und Spielen anfangs als Hinbewegungen sehen.
Wenn das so ist, würden wir nicht anfangen, das mit einem Klienten zu diskutieren. Wir würden einfach etwas Zeit nehmen, um klarzustellen: »Kann ich einfach mal überprüfen, ob wir diese Begriffe in gleichem Sinn verwenden? Wegbewegungen sind alles das, womit Sie aufhören oder was Sie weniger machen möchten, wenn unsere Arbeit Erfolg hat, und Hinbewegungen sind die Dinge, mit denen Sie anfangen oder die Sie mehr machen möchten, wenn unsere Arbeit, die wir hier machen, erfolgreich ist.«
Wenn die Klient:innen selbstschädigendes Verhalten weiter als Hinbewegung bezeichnet, dann erkennen wir das an und schreiben es neben den Pfeil »Hin zu etwas«.
Warum? Weil dies eine Momentaufnahme des Lebens des Klienten ist, wie er oder sie es im Moment sieht, nicht wie der Therapeut es sieht.
Unser Ziel ist es, ein Gefühl für die Weltsicht der Klientin, für den Grad des Selbstgewahrseins des Klienten zu bekommen: was die Klientin als Probleme sieht und was sie nicht als Probleme sieht. Wenn wir den Klienten an diesem Punkt konfrontieren, wenn wir versuchen, ihn dahin zu bringen, dass er sein Denken ändert und dieses destruktive oder selbstschädigende Verhalten als eine Wegbewegung sieht, werden wir wahrscheinlich in einen fruchtlosen Kampf geraten. Fürs Erste benennen wir es als Hinbewegung und behalten im Hinterkopf, dass wir dies in späteren Sitzungen ansprechen.
Anfangs sollten wir Therapieziele finden, die das therapeutische Arbeitsbündnis aufbauen, statt es zu belasten. So finden wir heraus, was die Klientin tatsächlich als ihre Wegbewegungen sieht, und wir verwenden ACT, um mit ihr an diesen Verhaltensweisen zu arbeiten.
Dann, zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie, wenn der Klient einmal ein höheres Niveau an psychischer Flexibilität erreicht hat, können wir auf das Verhalten zurückkommen und es neu bewerten:
»Als Sie gerade zu mir gekommen waren, haben Sie Glücksspiel als eine Hinbewegung gesehen; sehen Sie es immer noch so?« Normalerweise verändert die Klientin ihre Sichtweise, wenn die Therapie voranschreitet und sich die psychische Flexibilität der Klientin entwickelt, und sie versteht ihr selbstschädigendes Verhalten als Wegbewegung besonders wenn sie bemerkt, dass es sie daran hindert, andere wichtige Lebensziele zu erreichen.
3. Eine Aktivität kann je nach Kontext eine Hinbewegung oder eine Wegbewegung sein.
Wenn ich vor allem fernsehe, um zu vermeiden, ins Fitnessstudio zu gehen oder um die Erledigung einer anderen wichtigen Aufgabe aufzuschieben, oder wenn ich achtlos eine Tüte Skittles esse, um Langeweile oder Angst zu vermeiden, dannbezeichne ich diese Aktivitäten als Wegbewegungen. Wenn ich aber aufgrund einer bewussten, wertegeleiteten Entscheidung fernsehe, die mein Leben bereichert (zum Beispiel um die letzte Folge von Doctor Who zu sehen), oder wenn ich achtsam Popcorn esse, wenn ich sie mit Freunden genieße, wenn wir etwas feiern, dann klassifiziere ich diese Aktivitäten als Hinbewegungen. Es geht also nicht um die Aktivität als solche: Es geht um die Wirkungen, die diese Aktivität hat.
In Zusammenhängen, in denen uns eine Aktivität dem Leben näher bringt, das wir leben wollen, und wir uns wie der Mensch verhalten, der wir sein wollen, ist es eine Hinbewegung; und in Kontexten, in denen uns diese Aktivität von dem Leben, das wir haben wollen, wegbringt, und wir uns anders als der Mensch verhalten, der wir sein wollen, ist es eine Wegbewegung. Wenn wir Beispiele wie diese an einem Punkt der Entscheidung eintragen, nehmen wir Informationen mit auf, die deutlich machen, ob es eine Hinbewegung oder ob es eine Wegbewegung ist. Zum Beispiel würde ich an meinen Pfeil »Von etwas weg« schreiben »Fernsehen, um wichtige Aufgaben zu vermeiden« und an den Pfeil »Zu etwas hin« »Fernsehen als eine Entscheidung im Rahmen eines ausgewogenen Lebensstils«.

Der Punkt der Entscheidung, das Hexaflex und das Triflex
Schauen wir uns jetzt an, wie sich die Prozesse von Hexaflex und Tri-flex mithilfe des Punktes der Entscheidung abbilden und veranschaulichen lassen.

Zu späteren Schritten beim Lösen aus der Verstrickung gehört häufig die aktive Verwendung von Kompetenzen für Defusion, Akzeptanz und positiver Selbstzuwendung. Frühe Schritte der Lösung aus Verstrickung sind häufig Erden und Zentrieren, Wahrnehmen, Benennen und Anerkennen der anwesenden Gedanken und Gefühle.
Kompetenzen für die Befreiung aus einer Verstrickung beziehen sich auf alle vier Kernprozesse der Achtsamkeit in der ACT: Defusion, Akzeptanz, Selbst als Kontext und Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment.
Wir können jede mögliche Kombination dieser Prozesse verwenden, um uns aus dem Griff schwieriger Gedanken und Gefühle zu lösen und ihre Wirkung und ihren Einfluss auf offenes oder verdecktes Verhalten zu reduzieren.
Hinbewegungen bezieht sich auf engagiertes Handeln – physisches und psychisches –, das von unseren Werten geleitet ist.
Verstrickt bezieht sich auf zwei Kernprozesse – kognitive Fusion und Erlebnisvermeidung –, die aus der Sicht der ACT für den größten Teil unseres psychischen Leidens verantwortlich sind. Kognitive Fusion bedeutet im Grunde, dass wir von unseren Kognitionen »dominiert« sind. Und
Erlebnisvermeidung ist der andauende Kampf, um unerwünschte Gedanken und Gefühle zu vermeiden oder loszuwerden.
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